DIE UHR


Ich schaue ab und zu den Weg entlang, der sich vor dem Aschram schlängelt, eng und dornig, wie jeder Weg zu Wahrheit und Gott. Die breiten Wege sind irgendwo weit weg in der Ebene, vielleicht gar nicht in diesem Land, vielleicht sogar nicht einmal in dieser Welt, obwohl die Welten des Geistes und der Materie so seltsam miteinander verflochten sind, dass sie manchmal wie untrennbar wirken. Aber die Gemeinsamkeiten sind nicht so viele, wie es uns auf den ersten Blick scheint. Die Erinnerung an das Leben ist nicht das Leben selbst, und das Übergehen in die geistigen Welten ist nicht wie eine Fahrt auf der Magistrale, es ähnelt mehr diesem engen Weg zum Aschram, in dem ich seit zwei Jahrzehnten lebe und von dem aus mein schlängelnder und dorniger Weg zum himmlischen Aschram eines Tages seinen Anfang nehmen wird.
Ich beobachte den eitlen Kampf meiner neuen Schüler gegen die Welt der Form. Sie bewältigen diese Welt kaum, sie sind erst seit einigen Wochen hier, ihre Muskeln sind nicht kräftig genug, die Seelen noch weniger. Ihre Intelligenzlerhände haben sich noch nicht daran gewöhnt, Steine zu den Gipfeln zu tragen, die meisten von ihnen haben ein ganzes Leben vor Kathedern oder Computern verbracht, wenige haben überhaupt ihre Hände beschmutzt. Vielleicht fragen sich jetzt auch viele, was für eine Notwendigkeit sie hierher gebracht hat. Eine, die die Menschen aus ihren sicheren Wohnungen herauszieht und sie in eine Welt voll primitiver Arbeit, Wolken von Malariamücken und nicht endender Steine für den Aufbau der ewig unvollendeten Tempel hinein wirft.
Die meisten sind noch nicht in den Sinn des Mandalas eingedrungen, sie verstehen nicht, warum Hunderte von Menschen monate-, manchmal jahrelang aus Sand etwas so Zartes wie ein Mandala schaffen sollen, nur damit es von diesen gleichen Menschen am Ende des Schaffens zerstört wird. Sie wissen nicht oder wollen noch nicht glauben, dass das Materielle vergänglich ist, dass es einer Zerstörung unterliegt, und dass das Mandala nur ein Symbol dieser Vergänglichkeit ist. Die Ungeduldigen schlagen vor, eine Methode zu finden, damit das Bild des Mandalas erhalten bleibe. Dann antworte ich ihnen, es gäbe eine Möglichkeit, dass ihre Wünsche erfüllt werden könnten. Sie sollten sich einfach hinsetzen und die Sandkörnchen zusammenkleben, jedes Sandkörnchen an sein nächstes, und wenn sie es bis zum Ende geschafft hätten, würden die Menschen nicht mehr sterben, Sand und Wasser nicht mehr die Städte verschlucken oder die Ozeane die Küsten. Alles ist so leicht, es muss sich nur jemand hinsetzen, um es zu machen.
Sie glauben, dass ich scherze, aber ich sage ihnen die Wahrheit. So einfach ist der Weg zur absoluten Macht über die Materie, aber es ist so schwer, seine Lage zu entdecken.
Sie alle sind hier, weil sie diesen Weg suchen, aber nur ganz wenige werden ihn noch in diesem Leben finden. Deswegen sind dem Menschen unzählige Leben gegeben. Sie wissen noch nicht, dass es nicht wichtig ist, wann sie den Weg erreichen werden. Der wichtigste Moment im Leben des Menschen ist, wenn er anfängt, ihn zu suchen; von diesem Augenblick an ist er von der unpersönlichen Masse getrennt, die sich im Rad der Wiedergeburten dreht, in diesem Augenblick ist er schon Schüler und auserwählt.
Oft ist dieses Lerngeschenk das einzige, damit man in der Lage ist, den Rahmen eines menschlichen Daseins zu erleben. Das ist auch der Anhaltspunkt des Archimedes, mit dem man jeden menschlichen Planeten nach oben anheben könnte. Sonst verwandelt sich das Leben in einen zwar ersehnten, lang gewünschten Gegenstand, den wir aber nach dem Kauf niemals benutzen. Wir werfen ihn auf irgendein Wandbrett in der Hoffnung, dass wir uns eines Tages mit seinem Glanz schmücken werden oder er uns mit seiner Nützlichkeit dient. Aber dieser Augenblick kommt nicht, weil die Gegenstände in der Welt der Materie immer die Menschen überleben und sogar die unnötigsten Dinge oftmals mit einem Leben beschenkt sind, das länger als das menschliche ist.
Wie diese Uhr, zum Beispiel, das einzige Ding, das ich von meiner Welt mitnahm, als ich mich entschied, sie für immer zu verlassen und mich in den Falten dieses Vorberges anzusiedeln, weil ich zu den Menschen gehöre, die verurteilt sind, noch in diesem Leben ihren Weg zu betreten.

Es war unsere erste Fahrt und deswegen wählten wir dieses Land einer bis vor kurzem verbotenen Welt, die das Menschenauge mit dem Glanz der Materie und ihrer Verschwendungssucht verblüffte. Übrigens, er wählte es, ich begleitete ihn nur. Meine Wünsche waren, im Gegensatz zu seinen, ganz andere, ich wollte, dass wir in die entgegengesetzte Richtung fahren, und das erstickte ihn fast vor Empörung: Wohin wollte ich ihn eigentlich bringen? In eine Welt der untersten Ausgestoßenen, vom Schicksal geborenen Bettler, der geistesgestörten Einsiedler mit am Kiefer festgenagelten Zungen, der verrückten Prinzen, die ihre Schlösser verließen, um zu meditieren und das Nichts vor jenen gleichen Untersten zu predigen? Er wollte, dass wir ins Zentrum der Welt gingen, wo die Begriffe entstehen, in diese Schmiede neuer Gegenstände und sie begleitender neuer Wörter, wo die Zukunft durch das Monokel der entwickeltesten Gegenwart gesehen werden konnte.
Umsonst opponierte ich, dass man die Zukunft am besten aus der Vergangenheit sähe, umsonst zitierte ich ihm Urlehren, dass oben wie unten sei, Gestern wie Heute. Er betrachtete mich mit verständnislosen Augen. Wahrscheinlich dachte er, dass ich verrückt wäre und bedauerte seine Wahl, diese Fahrt gerade mit mir zu unternehmen. Er war wie meine jetzigen Schüler und wusste nicht, warum er bei mir blieb. Aber er konnte nicht weggehen. Vielleicht weil er noch nicht den Anhaltspunkt gefunden hatte und es ihm bevorstand, seinen geistigen Planeten eine weitere Stufe nach oben anzuheben, auf die Stufe, von der aus man schon den Weg sehen kann.
Aber durch welche Periode der Zerstörung verlief das Suchen nach diesem Punkt bei ihm! Manchmal glaubte ich, dass er es nicht schaffen, dass etwas ihn hindern oder den Hebel aus seinen Händen schlagen würde. Dass dieser stürmische Planet, noch unbeständig in seiner instabilen Umlaufbahn, ins Nichts hinunterstürzen würde und von vorne anfangen müsste, aus dem Staub und der Asche der Schöpfung.
Da wusste ich noch nicht, dass sich nichts verlor und zurückkehrte, dass die Seele im nächsten Leben bei dem Punkt anfängt, den sie im früheren bereits erreicht hat. Aber ich wusste schon, dass die Verantwortung für unsere Gedanken und Taten sich in die Ewigkeit fortsetzt und der Tod keine Sühne für unsere Fehler ist.
Die alte Maxime „Für die Toten entweder Gutes oder Nichts“ verliert sofort ihren Sinn, wenn wir annehmen, dass der Tod weder Bestrafung noch etwas Endgültiges ist, dass wir tausend Mal gestorben sind und uns ebenso oft zu sterben bevorsteht, bis wir uns daran gewöhnen, die Verantwortung für unsere Taten zu übernehmen, und genug Energie sammeln, um uns vom Rad der irdischen Wiedergeburten loszureißen.
Der Gedanke, dass es keinen Tod gibt, würde uns von der Verpflichtung befreien, gutgemeinte Lügen für jene zu sprechen, die uns für kurze Zeit verlassen, für einige kurze Jahrtausende – ein Staubkorn der riesigen Zeit der Materie – und ihre Worte, Fehler und Ergebnisse mit einer neuen Wiedergeburt in die irdische Welt zurückbringen.
Die Endgültigkeit des Todes ist ein Luxus, den sich die Menschheit nicht erlauben darf. Auf den Glauben an diese Endgültigkeit sind alle Verbrechen zurückzuführen; der Gedanke, dass das Ende des Lebens wie ein Schwamm alle unehrlichen Taten auslöschen würde, verhindert, dass das Individuum den Unterschied zwischen Gut und Böse erkennt, und zwingt es, öfter das Böse zu wählen, um schneller das Ziel zu erreichen.
Aber wenn die Verantwortung für unsere Taten uns durch die Jahrtausende begleitet, durch das Existieren der Sterne und Welträume, und wenn das Böse das einzige Gepäck ist, das man in ein nächstes Leben forttragen kann, wo wir alle unsere Fehler, Geistlosigkeiten und den Konformismus mit der Gebrechlichkeit des Körpers, alle Miseren und Erniedrigungen der Seele büßen müssen, ob dann der Mensch nicht eher nachdenken würde über das, was er macht, und ob die Wahl des Guten nicht die leichtere und perspektivischere wäre?
So dachte ich, während ich seinen zornigen Ausbrüchen, seinen hysterischen Anfällen zuhörte, die sich oft wiederholten, besonders, wenn etwas in seiner Firma nicht gut lief. Ich war der Sündenbock für alle Misserfolge in seinem privaten und dienstlichen Leben.
Am Ende war er so tief gefallen, dass er versuchte, mich vor seinen Freunden zu erniedrigen. Mein Schweigen verstärkte seine Erbitterung nur noch. Er verlor allmählich den Boden unter den Füßen; Erfolg und Reichtum, die ihm in letzter Zeit zufielen, waren eine sehr schwere Prüfung für eine noch so schwache Seele. Schwerer als die Armut und die Miseren, die er von der Kindheit her gewöhnt war.
Dass ich ihn in seinem Wahnsinn nicht unterstützte und mich seiner Aggression nicht ergab, schien sie noch zu verstärken. Eigentlich zwangen meine Zuversicht und meine ruhige Ausstrahlung ihn, noch mehr das Gleichgewicht zu verlieren.
Hauptsächlich versuchte er, mich damit zu verletzen, dass ich keine Kinder hatte und keine haben wollte. Er hatte zwei aus seiner ersten Ehe, liebte sie jedoch nicht, obwohl er sich das niemals eingestehen würde. Sie kamen mit Gewalt und Lüge auf die Welt, denn seine Frau belog ihn, dass sie mit dem ersten schwanger wäre, damit er sie heiratet. Erst nach der Heirat gestand sie, dass es noch kein Kind gäbe. Zweimal versuchte er, sich von ihr zu trennen, und zweimal verfiel sie auf die List, schwanger zu werden. Das hielt ihn dann für kurze Zeit bei ihr. Am Ende war sie jedoch überzeugt, dass sie ihn nicht für immer binden könnte und gab nach langem Kampf ihre Einwilligung in die Scheidung, erklärte ihm sogar, dass die Kinder nicht seine wären. Jetzt, nach seinem finanziellen Erfolg, versuchte sie, ihn wieder zurück zu bekommen, von neuem mit diesen gleichen Kindern, die angeblich nicht seine waren.
Vielleicht verstand ich die Tragödie seines Lebens zu gut, um seine Schwachheit auszunutzen. Eigentlich sah ich mehr als er, ich war fortgeschrittener auf dem Weg der Voraussicht, und er konnte mich nicht wirklich verletzen. Aber manchmal betrübte er mich unermesslich und ich verlor in seiner Nähe den Sinn meines Lebens. Ich fühlte, dass er mich brauchte, ich sah den Abgrund, auf den er zuging, und ich wusste nicht, ob ich diesen Abgrund vor ihm erreichen würde, um ihn im letzten Augenblick am Rand anzuhalten – wenn es sogar für einen Blinden klar war, dass er zu einem Abgrund ging und nicht zu einem Gipfel.
Trotz allem, und vielleicht gerade wegen seines in der Vergangenheit gerechten Lebens, liebte das Schicksal ihn und schickte ihm klare, sogar für ein Kind sichtbare Warnungen. Aber er sah und hörte sie nicht, und der Umstand, dass ich sie sah, erfüllte ihn nur mit noch größerer Nervosität und Ungerechtigkeit. Er nannte mich Kassandra, und, wer weiß warum, es sollte mich beleidigen.
Dabei bedurfte es keineswegs hellseherischer Begabungen, um zu sehen, dass der Weg, dem er folgte, verhängnisvoll für ihn war und nicht seiner Lebensweise entsprach.
Nach jedem finanziellen Gewinn wurde er immer unvernünftiger, seine Autos wurden immer schneller und die Unfälle mit ihnen immer schwerer. Aber der Umstand, dass er unversehrt aus jeder Katastrophe herauskam, verstärkte nur sein Gefühl, ein Auserwählter der Götter, dem nichts Böses passieren kann, zu sein. Er begriff nicht, dass mit jeder an der Börse verdienten Summe sich auch die Schwere seiner Unfälle erhöhte.
Er war ein Liebling der Götter. Keiner von meinen Bekannten erhielt so viele, so klar deutbare und so schwere Warnungen, aus denen er sich lediglich mit Kratzern herauszog. Aber er wusste nicht, dass die Götter hinterhältig sind und ihre Lieblinge früh zu sich nehmen – er akzeptierte ihr Spiel als seriös und schicksalhaft.
Lange Zeit kamen Voraussicht und Verblendung zu ihm wie Ebbe und Flut. Das ließ mich hoffen, dass ich ihm bei seiner Fahrt zum Abgrund zuvorkommen und ihn rechtzeitig anhalten könnte, bevor er auf das Gras des Bodens hinabstürzte und zwei Meter unter ihm versank. Bis ich eines Tages verstand, dass ich den Kampf verloren hatte. Ich verstand es dank dieser Fahrt nach Westen, dank dieser Uhr. Ich habe mich von ihr nicht getrennt, sogar in der neuen Welt, in der ich nach dem frühen Tod meines Freundes leben wollte.

Zum ersten Mal kam er in ein industriell so fortgeschrittenes Land und alles rührte ihn zu Tränen: Der Glanz der Verpackungen, das Licht der Vitrinen, die Schönheit der Prostituierten. Alles war hübsch, gemütlich und ideal hier, nicht wie in unserer Welt schlecht, schmutzig und armselig. Wenn ich ihm sagte, dass diese gutaussehenden Gebäude in einem Jahrtausend nicht mehr existieren würden, weigerte er sich, in solchen Maßstäben zu denken und ärgerte sich wegen der Missachtung, die ich dieser Welt der vollkommenen Formen und Volumen gegenüber empfand. Er wollte in einer unendlichen Gegenwart leben, in der es immer Heute ist, und weigerte sich, Menschen wie mich anzunehmen, die wussten, dass es ein Morgen und eine Ewigkeit gibt und dass diese Welt mit ihren Kathedralen und Gebäuden zwar zum Morgen gehört, aber nicht gleichzeitig zur Ewigkeit. Zur Ewigkeit gehören die viel leichteren und körperlosen Dinge, die in Bibliotheken zu finden sind. In Bibliotheken, die wir nicht besuchten.
Ich weiß nicht, wie es passierte, dass wir auf diesen Bazar gerieten. Vielleicht war es das Schicksal, das mit uns seine eigenen Pläne hatte, was uns dorthin brachte. Ich dachte, dass er sich nach einer Woche Glanz an dieser Welt satt gesehen hätte, aber ich täuschte mich.
Ich weiß nicht, warum es mir eingefallen ist, dass ich gerade jetzt eine Uhr brauchte. Ich hatte eine am Handgelenk, aber ich erwartete, dass ihre Batterie bald leer sein würde und entschied, dass es vernünftig wäre, wenn ich einfach eine neue, billige Uhr kaufte, die fast gleich viel wie eine neue Batterie kostete. Eine der Verkaufsbuden zog schon meinen Blick an. Ich blieb vor ihr stehen und starrte auf die dort angebotenen Uhren.
In den ersten Minuten wurde meine Aufmerksamkeit durch sie gefesselt und ich merkte nicht, was er machte. Ich spürte nur seine Anwesenheit irgendwo neben mir, aber ich sah nicht zu ihm, weil mein Blick von den unglaublich schönen und billigen Zeitschluckern in der Verkaufsbude angezogen wurde. Es gab jede Art: Mit dünnen und dicken Ketten, für Damen und Herren oder für den Sport und welche, die mit imitierten Diamanten geschmückt waren, andere mit Armbändern aus Leder oder Metall, entweder von unten zuzuschnallen oder mit ganzen Armbändern, auch mit Sicherheitsverschlüssen oder ohne, für die Kunden, die aufmerksam genug sind, ihre Sachen normalerweise nicht zu verlieren.
Nach einiger Zeit endete der Schwindel, der mich erfasst hatte, ich landete wieder auf der Erde und wählte im nächsten Augenblick mein Geschenk. Und im gleichen Moment blickte ich auf ihn.
Seine Augen waren auf die Verkaufsbude geheftet, als sähe er ein Raumschiff mit Außerirdischen. Er tastete mit den Augen die Uhren ab, als ob er sie genösse, wahrscheinlich starren so Scheiche auf ihre Diamanten oder Konkubinen.
Ich spürte eine schwache Eifersucht; auf mich starrte er niemals mit solchen Augen. In den Jahren unseres gemeinsamen Lebens gewöhnten wir uns daran, den anderen nicht zu bemerken. Und das war zu bevorzugen, denn die Augenblicke, in denen wir einander wahrnahmen, endeten mit Katastrophen.
Dieses Abtasten dauerte lang, sehr lang. Am Anfang schien er mir einem Wollüstling ähnlich, eine hübsche Frau durch sein Fernglas betrachtend, die sich vor dem gegenüberliegenden Fenster auszieht. Danach sah ich, dass das Kind in ihm diese so schönen, so glänzenden Rasseln angeschaut hat, wie die Eingeborenen von Haiti wahrscheinlich die unter der Sonne glänzenden Glasperlen der ersten Konquistadoren anschauten und gegen im Paradies unnötiges Gold eintauschten.
Danach begann er zu vergleichen. Er verglich lange und mit Genuss, mit dem sachkundig bewanderten Genuss des Kenners. Ich hatte das Gefühl, dass seine Finger auch Augen haben und Dinge sehen, die für mich unsichtbar sind.
Niemals erfuhr ich, was seine Finger an jenem Tag sahen. Ich war auch nicht klug genug, die Geduld aufzubringen und das Rätsel zu lösen. Alles endete mit einem riesigen Krach zwischen uns und er schloss sein Geheimnis hinter neun Schlüssellöchern ein.
Nur die Weisheit der Zeit und meine unaufhörlichen Meditationen halfen mir, später diesem Geheimnis näher zu kommen. Nein, ich konnte nicht alle Türen aufschließen, nur die vordersten, nur die zugänglichsten. In einer meiner Visionen ins Jenseits sah ich einen kleinen, sommersprossigen Jungen. Er stand vor den Verkaufsbuden des Jahrmarkts, der jährlich in unserer Stadt durchgeführt wurde. Der Junge betrachtete die Kinderarmbanduhren. Die waren so bunt, so schön und so unerschwinglich. Aber das Kind hatte keine Münze in seiner Tasche. Und Millionen von Kilometern vor ihm lagen die mit süßer Mandelcreme gefüllten Waffeln und im Mund zart schmelzende Eiscreme. Daneben die Armbanduhren, besonders diese blauen, roten, grünen, orangen Armbanduhren mit glänzenden Gläsern und aufgemalten Zeigern, die sich manchmal vom Papier losrissen und sich in der Phantasie auf dem Zifferblatt zu drehen anfingen, begleitet von einem rhythmischen, die Ohren mit süßer Musik füllenden Ticktack.
Ich bedauerte, dass diese Vision so spät in meinem Leben erschien, sonst hätte ich vielleicht auf der Stelle verstanden und ihm verziehen, und wahrscheinlich wäre es nicht zum Konflikt gekommen. Aber ich war damals nur ein meditierender Verehrer im Tempel der Götter und noch kein Hellseher. Umsonst schmeichelte er mir mit dem Beinamen Kassandra, das trojanische Pferd der Reizung trat in meine Seele ein, unabhängig von meinen Prophezeiungen.
Er fuhr mehr als eine Stunde fort, die Uhren zu betasten. In dieser Stunde wurden sie alle einmal anprobiert, dann fing er an, sie ein zweites Mal anzuprobieren. Er hielt bei einer an, steckte die Hand in ihr Armband, betrachtete sie mit blicklosen Augen, danach wurde er schwankend und legte sie zurück auf ihren Platz. Er probierte wieder eine zweite, dritte, zehnte. Am Ende, erfroren und verzweifelt, flüsterte ich leise:
„Vielleicht ist es nicht dein Tag, an dem du eine Uhr kaufen solltest. Du hast sowieso schon vier und alle sind hübscher als diese hier... Gehen wir endlich.“
Er fuhr fort zu probieren und dann sah ich, dass seine Hände zitterten, während sein Gesicht ausdruckslos und irgendwie träumerisch blieb. Ich sah noch nicht das kleine sommersprossige Kind, das vor der Verkaufsbude seiner Geburtsstadt träumt, ich sah es sogar viele Jahre nach seinem Tod noch nicht.
Ich wurde jetzt nervös und begann darauf zu bestehen, dass wir endlich im Bazar umherlaufen, weil ich sehr fror. Endlich gab er schweigend nach, und wir sind gegangen. Wir spazierten überall umher, er wurde jetzt auch nervös, je mehr wir uns von den Uhren entfernten. Schließlich bot er mir an, ich solle allein zum Hotel gehen. Ich verstand, dass er sich nicht von dem Narkotikum trennen konnte. Es rief ihn mit einer mächtigen Stimme zu jener Verkaufsbude, wo ein kleiner Junge seit Jahrzehnten fortfuhr, auf Spielzeuge mit aufgemalten Zeigern zu starren.
Und ich kehrte mit ihm um, denn das war mein Narkotikum, ich war unendlich neugierig, wie alles enden und ob er sich endlich eine Uhr kaufen würde.
So beging ich meinen ersten Fehler. Durch meine Anwesenheit wurde er unermesslich nervös, unruhig, höhnisch. Noch ungefähr eine Stunde ging dieses Anprobieren über der Hand und Betasten der glänzenden Armbänder weiter. Letzten Endes stritten wir uns erneut, ich konnte ihn nicht von den Uhren trennen, er war endgültig in den Abgrund gefallen und es blieb ihm nur, die zwei Meter unter das Gras hinabzugehen.
Umsonst redete ich auf ihn ein, dass nichts Materielles unsere Aufmerksamkeit so stark verdiene, und dass es keine Uhr in der Welt gäbe, wegen der eine Frau im kalten Winter erfrieren zu lassen wäre. Er hörte mir mit den von Wachs verstopften Ohren des Odysseus zu, und wenn es ihm gelang, mir durch das Plätschern der Menschenwellen zuzuhören, die sich an dieser gleichen Verkaufsbude brachen, bestand er weiter darauf, dass ich ihn in Ruhe ließe, am besten wegginge. Er dachte überhaupt nicht daran, dass ich den Weg zum Hotel nicht kannte. Dass ich die Frau war, mit der er lebte. Dass ich letzten Endes seine Frau war und nicht einfach so, wegen Kinkerlitzchen, weggeschickt werden konnte.
Ich geriet in Zorn wegen seines abwesenden, über die Zeit meditierenden Blickes und aufgrund seiner aufbrausenden Stimme und schrie:
„Es ist egal, welche Uhr du wählst, weil sie nach dem Einkauf zerbrechen wird!“
Er schwieg, aber ich spürte, dass sich etwas in ihm zu bewegen anfing, und ich fügte hinzu:
„Jeder Gegenstand, in dessen Namen du eine Liebe opferst, ist verdammt und wird dir kein Glück bringen.“
Ich fühlte, dass er wieder zu zittern anfing, die Anstrengung, seine Wut zu beherrschen, erwies sich als übermenschlich für ihn. Am Ende griff er eine von den Uhren und kaufte sie. Wir gingen durch die Menge und stritten nicht mehr, er erklärte sogar, dass er zufrieden wäre und die Uhr seines Lebens gekauft hätte. Ich schwieg erleichtert, ich wollte meine Enttäuschung über diesen Menschen, über seine Leidenschaft für Gegenstände unterdrücken.
Im nächsten Augenblick versuchte er, das glänzende Ding an seine Hand anzulegen und die Uhrkette brach in seinen Fingern. Er wurde ganz blass, ich schwieg, wie ich es in den sublimen Momenten seiner Erregung immer gemacht habe. Danach folgte der verrückteste Skandal, den wir während des ganzen Jahrzehnts unserer Verbindung hatten. Wir vergaßen, dass wir auf der Straße waren, von Hunderten von Leuten eingekreist, dass wir im Zentrum einer europäischen Stadt waren, einer westeuropäischen. Die Menschen beobachteten uns beunruhigt und verstanden nicht, was passierte.
Nach ungefähr zehn Minuten beherrschten wir uns wieder und verstummten, aber die Luft über dem Platz blieb mit Spannung aufgeladen.
Selbstverständlich gab er die Uhr zurück und tauschte sie gegen eine neue, absolut ähnlich der vorigen. Wir gingen zurück zum Hotel und nach einigen Tagen fuhren wir zurück in unser Land. Seitdem hörten die Dinge zwischen uns auf zu funktionieren. Immer noch lebten wir zusammen, aber wir unterhielten uns nicht miteinander, klärten nur das Notwendigste. Etwas war zwischen uns zerbrochen.
Er trug nie wieder jene Uhr. Er brauchte sie auch eigentlich nicht, er hatte weit bessere, teurere und hochwertigere als diese.
Das glänzende Spielzeug sammelte Staub auf dem Regal, unser Verhältnis auch. Bis zu jenem Tag, an dem er entschied, mit seinem neuen glänzenden Auto auf einem Weg voll mit Löchern zweihundert Kilometer pro Stunde zu fahren. Ein Baum unterbrach seinen Weg für immer. Seinen irdischen Weg, auf dem er sich so freute und so stolz war.
Das Seltsame daran ist etwas anderes: Dass die Polizei von seiner zerquetschten Hand die Uhr abnahm – absolut ganz, ohne einen Riss, ohne einen Blutstropfen auf ihrem Glas. Ein echtes Wunder zwischen jenen geborstenen Blechen und seinem zwischen ihnen verstreuten Fleisch.
Einige Jahre später verließ ich mein Land und geriet in diesen Aschram. Vor seinem Tod wählte unser geistlicher Lehrer mich zu seinem Vertreter, bis er wieder in einem anderen Körper zurück zu uns käme. Ich war seine talentierteste Schülerin, die einzige, die ihren Weg noch in diesem Leben gefunden hatte.

Jetzt höre ich dem Lärm meiner Schüler zu und betrachte ihren ungleichen Kampf gegen die Grobheit der materiellen Welt. Wenn ich für einen Augenblick zulasse, dass sie sich beugen, wird diese Welt sie für lange Zeit schlucken, für sehr, sehr lang. Ich weiß, dass sie mich zu streng finden, manchmal sogar ungerecht. Aber wenn jemand im Aschram bleiben will, muss er sich seinen eisernen Regeln unterordnen. Es war schon so beim früheren Lehrer und die Regeln wurden auch bei mir nicht geändert.
Besonders liebe ich es, sie zu beobachten, wenn sie das Mandala für ein großes religiöses Fest zeichnen. Ich glaube, dass ich dann erkenne, wer den Weg noch in diesem Leben finden wird und wer sich noch lang im Rad des Karmas drehen muss. Diejenigen, die die Augenblicke des Daseins zu schätzen aufhören und sich mit ihrer ganzen Seele ihrer Arbeit mit dem schönen farbigen Sand hingeben, sind die Sieger in diesem Leben. Jene, die nervös sind und heimlich durch das Fenster auf die Sonnenuhr im Hof blicken, müssen auf ihren Augenblick der Weitsicht noch warten. Es liegt nichts Tragisches darin, denn die unsterbliche Seele hat die ganze Ewigkeit der Materie vor sich.
Ich liebe alle meine Schüler gleich, jene, die die Zeit vergessen, und auch die, die heimlich auf den Hof blicken. Vom Gesichtspunkt der Ewigkeit aus gibt es keine Bedeutung, wann du auf den Weg treten wirst, es ist nur wichtig, sich überhaupt einmal auf ihn zu begeben.
Ich blicke auch manchmal ungeduldig auf die Uhr, die seit Jahren nicht geht, weil ihre Batterie leer und nicht gegen eine neue ausgetauscht worden ist. Mit meiner Ungeduld bin ich dann jenen meiner Schüler ähnlich, die auf die Sonnenuhr starren, in der Hoffnung, dass der Schattenzeiger endlich nach dem Fluss gedreht und die Zeit für den Abenddienst gekommen ist.
Ich weiß, was sie erwarten. Aber ich weiß nicht, was ich erwarte. Vielleicht ein Treffen mit ihm jenseits des Lebens und Anerkennung, dass ich recht hatte. Obwohl ich weiß, dass keine menschliche Regel eine Bedeutung dort hat, wo er jetzt ist.
Die Uhr ist mein Mandala, die mich erinnert, wie vergänglich die Welt der Form ist, wie überraschend ihre Schläge sind und wie launisch ihre auf den ersten Blick unerschütterlich erscheinende Materie ist.
Die Menschheit weiß so viel: Wie sieht ein Atom von außen und innen aus, wie fliegt die Fledermaus ohne Augen, wie orientieren sich die Wale durch die ozeanischen Abgründe, wie entstehen die Planeten und Galaxien.
Aber es gibt etwas, das wir nicht wissen und nicht versuchen zu erfahren, erschrocken von der tiefen Wahrheit, die darin enthalten ist: Dass sogar das Mandala, mit seiner Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit, manchmal den Menschen überleben kann.





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