WENN TRAEUME IN ERFUELLUNG GEHEN
Durch die Luft schwebten langsam und majestätisch einige Gegenstände: Ein
mit Wasser gefülltes Glas, das nicht auslief, ein Kopfkissen, gefüllt mit
weichem Flaum, das bald in die eine, bald in die andere Ecke schweifte,
ohne der irdischen Anziehungskraft unterworfen zu sein – als ob die Dinge
ein eigenes Leben führten. Eskortiert wurden sie von einigen Löffeln und
Gabeln, die sich in der Luft des Raumes drehten, als würde ein Ensemble
einen Säbeltanz von Hatschaturjan tanzen. Dies alles wurde begleitet von
Totenstille und Kühle im ganzen Haus, wie immer, wenn in ihm solch
Ungewöhnliches passierte. Doch derartige Ereignisse waren seit Jahren
Alltag in diesem Haus.
Der Mann, der nach einiger Zeit das Zimmer betrat, war darum weder überrascht
von den Gegenständen, die mehrere physikalische Gesetze gleichzeitig verletzten,
noch von der kalten Stille. Sein Ziel waren offensichtlich nicht sie, sondern
jemand, der in der Ecke saß und sich dort im Halbdunkel verbarg. Er kam nur
bis zur Mitte des Raumes. Dort wurde er von einer ungeheuren Kraft zurück- und
durch die Tür hinausgeworfen, als hätte ihn ein unsichtbares Kind der Riesen
als Stein in seiner Schleuder benutzt. Doch das beeindruckte den Mann überhaupt
nicht, er stützte sich an den Türrahmen, richtete sich wieder auf und schritt
erneut vorsichtig in Richtung seines Zieles.
In der Lichtlosigkeit des Zimmers funkelten zwei auf den Mann gerichtete
Augen. Es sah so aus, als könnte sich der Mann dieses Mal darauf zu schleppen,
aber wie vorher, warf die Kraft ihn wieder zurück zum Ausgangspunkt. Das Spiel
wiederholte sich noch etliche Male, bis der Namenlose auf seine Absicht
verzichtete und sich in einen der bei der Tür stehenden Sessel niederließ.
Das Glas mit dem Wasser begann um ihn zu kreisen wie eine aufgeregte Wespe.
Er schien es nicht zu bemerken, saß versunken in sorgenvolle Gedanken.
Schließlich wurde die Stille im Zimmer gestört. Aus der Ecke sprach eine
flüsternde Stimme, die bald lauter wurde, und dann vibrierten die
Gegenstände synchron mit den Worten, als ob sie durch sie lebendig würden
und sich mit einem neuen, unbekannten Sinn erfüllten.
„Sei vorsichtig, wenn du träumst, weil die Träume manchmal in Erfüllung
gehen!“, sagte die Stimme und fügte leise hinzu: „Der deine, zum Beispiel,
wurde zu deinem Entsetzen Wirklichkeit. Du warst jung und die Langeweile
des Daseins ließ dich verzweifeln. Du warst auch nicht mit besonderen Gaben
ausgestattet, die deine Aufmerksamkeit von den langen Tagen des Lebens
ablenkten.“
„Es war so“, pflichtete der Mann bei und lächelte verlegen, doch in
diesem Lächeln spiegelte sich alles andere als Freude.
„Und dann hast du eine Beschwörung ausgesprochen, die dich bis heute
durch ihre Verwirklichung verfolgt. Ich war deine Beschwörung.“
„Es war so“, stimmte der Mann wieder zu, doch diesmal lächelte er nicht.
Offensichtlich weckte die Erinnerung Trauer und Schmerz in ihm.
„Du hast dir gewünscht, ein ungewöhnliches Kind zu haben, und hast mich
in deine Welt gerufen. Du hast diese Welt so verlockend gemacht, dass
ich nicht widerstehen konnte, aus dem Nirwana hinunter zu steigen wie
eine Spinne aus ihrem Netz. Es war ein langer Weg, was die Reise vom
Nichtsein zum Menschen immer ist. Warum freust du dich nicht?“
„Ich freue mich“, antwortete der Vater, aber das waren nur Worte. In
ihnen war weder Glück noch Hoffnung zu erkennen. „Meine Vorstellungen
vom Ungewöhnlichen sind andere gewesen. Ich wollte nichts Ungewöhnliches,
das verwirrt und erschreckt. Ich hoffte auf irgendetwas innerhalb der
Grenzen des Menschlichen.“
„Weißt du denn, wie die Grenzen des Menschlichen aussehen? Und ob es
überhaupt Grenzen hat?“, kam es kehlig aus der Tiefe des Zimmers und
die Augen verlöschten, die Gegenstände hingen in der Luft. „Gott
stellt seine Macht nicht in einen Rahmen, wenn er entscheidet, den
Wunsch eines Menschen zu erfüllen.“
Der Mann seufzte tief und sprach nach kurzem Schweigen:
„Ich habe nicht gewusst, dass ich gerade ihn mit meinen Träumen
verpflichtete. Ich dachte, dass sich der niedrigste der Engel oder
nur ein Elf mit mir beschäftigen würde. Und manchmal schien es mir
eher, dass ich von allen Gönnern verlassen sei.“
„Niemand bleibt ohne Gnade. Auch nicht das letzte der Geschöpfe auf
diesem Planeten.“
„Aber manchmal übertreiben sie...“, murmelte der Vater und ließ
sorgenvoll den Kopf hängen.
„Mag sein“, bestätigte das Kind.
Danach versank es ebenfalls in Gedanken. Oder vielleicht schlief es ein.
Es vergingen lange Minuten. Keiner störte das Schweigen, als wären die
Themen ausgeschöpft. Aber es war immerhin ein Kind und wollte sich
amüsieren, es brauchte die Zeit seines Erzeugers, egal wie verbittert
der von seinem Erscheinen in der Welt war.
„Willst du, dass ich dir ein Schloss mit dreihundertdreiunddreißig
Diamantenzimmern baue - und in jedem Zimmer wird dich ein Mädchen
liebevoll erwarten?“, unterbrach das Kind das Schweigen, weil es ihm
lästig wurde.
„Nein“, antwortete der Vater leise, aber fest, „wir haben dieses Spiel
tausendmal gespielt und ich erinnere mich an kein einziges Gesicht der
Jungfrauen. Ich tauge nicht zum Geliebten. Warum sonst hätte deine
Mutter mich verlassen?“
„Meine Mutter hat dich verlassen, weil ich ein Monster bin!“, sagte der
Sohn ruhig und lächelte unsichtbar aus der Ecke. „Sie wollte nichts
gemein haben mit einem Kind, wie ich es bin, das von einem Träumer
wie dir stammt.“
„So wird es gewesen sein.“
Die beiden schwiegen wieder einige Minuten, dann unterbrach das Kind
erneut die Stille:
„Oder willst du ein goldenes Schiff, mit dem du nach Ägypten fährst,
um die schönste der Frauen zu erobern?“
Der Vater schüttelte wieder den Kopf. Auch dieses Spieles war er
überdrüssig und Kleopatra deuchte ihm schon lange nicht mehr die
Schönste.
„Dann lass uns wenigstens das Ziehen von Gegenständen aus der
Luft spielen“, schlug der Sohn vor, „was für einen Preis willst
du: das Schwert von König Artus oder die Krone von Karl
dem Großen?“
Wieder lehnte der Vater ab und ließ den Kopf hängen.
„Aber etwas müssen wir doch spielen!“, nörgelte das Kind. „Sonst
wirst du in eine Depression versinken und musst wieder zu dem
traurigen Krankenhaus, wohin man die Träumer der Welt holt. Und
dort sind nicht alle Kinder der Patienten so großzügig wie ich.
Im Gegenteil, sie füllen die Gedanken ihrer Eltern mit Alpträumen
und treiben sie zu verbrecherischen Wünschen und Taten.“
„So ist es. Aber ich weiß nicht, was ich mir ausdenken soll, wir
haben schon alles ausprobiert. Ich war ein Imperator, der Länder
eroberte und einen Lorbeerkranz trug, die Menge verbeugte sich
ehrerbietig vor mir. Rom war mein. Aber ich sage dir, es ist eine
langweilige Stadt und ihre Frauen sind käuflich und gierig. Ich
war ein russischer Zar und Rasputin prophezeite mir die blutige
Rache meines Volkes, ich entkam der wütenden Meute und frage mich
seitdem: warum sollte man Zar werden, wenn das Volk jeden Augenblick
meinen Kopf verlangen kann, und - was das Seltsamste ist - ihn auch
bekommt? Ich war ein Pirat und besaß unzählige Schätze in der Höhle
einer Insel, aber ich konnte die Liebe der Frau, die ich sehr gerne
hatte, nicht gewinnen, und das machte meine Reichtümer und das für
sie vergossene, unschuldige Blut sinnlos. Ich war ein Prinz und war
ein Tänzer, ein Vampir und ein Filmstar, ich war ein Schiffbrüchiger
auf einer unbekannten Insel, alle Amazonen gehörten mir und liebten
mich zärtlich. Ich war Führer eines Volksstammes und ein kosmisches
Monster, ich war Mitglied eines Kannibalenstammes und kann den
süßlichen Geschmack nicht wieder vergessen, als das Fleisch meiner
Artgenossen die Glut verließ und zwischen meinen Zähnen schmolz. Ich
habe Angst. Ich habe schon alles ausprobiert und das ist genug für
tausende von Leben! Hören wir also auf mit diesen Spielen!“
„Aber ich bin ein Kind und muss spielen, sonst kann ich mich nicht
entwickeln und werde wie die Kinder jener, vor deren Blicken sich
die Gitter der Krankenhäuser nicht mehr öffnen. Lass uns noch ein
bisschen spielen!“
„Verstehst du nicht? Ich habe keine Träume, weil ich keine unerfüllten
Träume mehr habe. Ich kann auf nichts mehr hoffen, ich bin ein
gebrochener Mann!“
„Unmöglich, dass kein einziger Traum geblieben ist!“, rief das Kind
aus, und der Vater stimmte zögernd zu:
„Einer ist geblieben, ja, aber er ist wirklich der letzte.“
„Macht nichts. Sprich ihn aus und wir wollen ihn bis zum Ende genießen!“
„Ich will...“, begann der Vater mühsam, dann zögerte er erneut, doch
letzten Endes entschloss er sich, es auszusprechen, „ich will, dass du
ein normales Kind bist, dass alle meine Träume zurückkehren!“
Die Gegenstände fielen sofort auf die Erde, ins Zimmer drang Licht. In der
Ecke stand ein gewöhnlicher Junge und lächelte seinen Vater mit dem
normalsten Kinderlächeln dieser Welt an.
Der Vater stand langsam auf und zum ersten Mal seit Jahren gelang es ihm,
das Zimmer zu durchqueren und sein Kind in den Arm zu nehmen. Er hob es
hoch und warf es jauchzend in die Luft, blind geworden für alles um ihn
herum und ohne den Goldstaub zu sehen, der ihm wie Schuppen ausfiel. Der
einzige Beweis, dass es in seiner Welt wieder unerfüllte Träume gab.
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