WILLKOMMEN IM LICHT
Jeden Morgen kam ich diese hektische und durch vieles Hupen zusätzlich
belastete Straße entlang, um sie zu beobachten. Nicht, dass mein Leben
ansonsten schöne Dinge entbehren müsste, im Gegenteil, unter ihnen waren
die Frauen eigentlich die zahlreichsten – also etwas ganz Normales für
einen Professor der Filmakademie. Aber in diesem einen Mädchen gab es
etwas Ungewöhnliches, das man mehr mit dem inneren Auge wahrnahm. Sie
schien mir fast überirdisch und unnahbar, und gerade diese Unnahbarkeit
lockte und weckte den Wettkämpfer in mir. Ich fand sie seltsam und
irreal, manchmal kam es mir sogar so vor, als begänne ihr Gesicht vor
meinem Blick zu schmelzen, als würde sie sich irgendwie in Luft auflösen
und von dort mit unsichtbaren, klugen Augen auf mich blicken. Aber sogar
dann, wenn sie absolut real aussah, verlieh eine gewisse Weichheit –
vielleicht die Aureole, vielleicht jene so unsichtbare und so umstrittene
Aura – ihr ein überirdisches Aussehen und bewirkte, dass ich ein Wesen
aus der Welt der Elfen sah oder einen Engel, auf die Erde gekommen, um
unsere Tage weniger verzweifelt erscheinen zu lassen.
Ich fand sie wirklich seltsam, aber vielleicht hatte nur ich Augen dafür?
Der täglich von ihr besuchte Bettler fand sie offensichtlich völlig
annehmbar und freute sich an ihrer ununterbrochenen Aufmerksamkeit.
Ich hörte selbstverständlich die Kommentare der anderen Menschen, in
meinen Kreisen verglich man sie mit einem Hollywoodstar, in den religiöseren
mit der Madonna, und manche Erotomanen behaupteten, dass sie ihnen in
intimstem Licht erschiene. Aber ich schenkte ihren Behauptungen keine
Beachtung, weil ich ihre aus jeder konkreten Bestimmung rutschende
Anwesenheit kannte und spürte, dass keine religiöse Gemeinschaft, keine
gesellschaftlichen Kreise oder auch Männer sie bis jetzt besessen
hatten.
Manches Rätsel zieht uns unaufhaltsam an. Wir geben uns allmählich seiner
despotischen Macht hin, wir träumen in seiner Umarmung, und die Grenzen
zwischen Irdischem und Überirdischem lösen sich langsam in unserem
Bewusstsein auf. Und dann beginnt jenes intensive innere Leben der Seele,
wovon niemand von unseren Verwandten, von unseren Freunden etwas merkt,
niemand von den sechs Milliarden Wahnsinnigen, mit denen wir die Oberfläche
unseres Planeten besiedelt haben. Wenn es ein Zeichen gäbe, mit Bestimmtheit
unseren Blick nach innen zu lenken, wäre dieses Mädchen mein Medium.
Ihre Besuche bei dem Bettler hatten keinen Rhythmus, aber jeden Tag, manchmal
zu den unmöglichsten Stunden, fand ich sie bei ihm. Sie saß auf der Holzbank,
hielt sein Hündchen in ihren Händen, streichelte das zahme Tierchen und sagte
etwas zu ihrem abgerissenen Gesprächspartner. Er hörte ihr mit genießerisch
verschleierten Augen zu, solange der Regen aus Münzen in seinen nachlässig
hingeworfenen Hut fiel. Es war klar, dass die Münzen nicht für ihn waren,
sondern für das schöne Rätsel, das ihn begleitete. Die Menschen versuchen,
das Schicksal mit Großzügigkeit zu bestechen, damit es ihnen dieses verborgene
Geheimnis enthüllt.
Was tat diese himmlisch schöne Frau neben dem unrasierten Heimatlosen? Manche
Leute vermuteten, dass er ein genialer Künstler wäre, geraten in die Lage
eines Bettlers, weil die Welt seiner Bilder noch nicht vollendet war. Aber
niemand kannte einen solchen Künstler und das Gerücht stolperte über dieses
unüberwindliche Hindernis der Realität. Die Kinder waren sicher, dass er
ein verkleideter Prinz aus dem Morgenland war, aber nirgendwo in der Welt
der Erwachsenen gab es eine Nachricht über einen verschwundenen Prinzen und
so entglitt der Bettler diesem Koordinatensystem. Es gab auch Andeutungen
über Liebesleidenschaft zwischen den höchsten Schichten des Himmels und den
niedrigsten Irdischen, aber sie zerstreuten sich schnell, wenn man dieses Paar
aus der Ferne erblickte, ihr Miteinander war so überirdisch, dass man nur
lachen konnte über eine solche Vermutung.
Ich saß an einem Tisch im gegenüberliegenden Kaffeehaus, beobachtete sie
stundenlang und zerbrach mir den Kopf über dieses Bild. Ihre Kleider waren
immer weiß: Die Hose und der Pullover, ein teurer Damenmantel aus Lamahaar;
dazu blonde Haare, hellblaue Augen, helle, fast durchsichtige Haut. Was wollte
sie unterstreichen? Das, was man auch ohne das Weiß sah? Dass sie nicht zu
unserer Welt gehörte, dass sie, vielleicht, keine Ansprüche auf die irdische
Welt erheben konnte?
Manchmal schien es mir, dass ich ihren Blick träfe, dass sie sich nur verstelle,
nur vorgab, mit dem Bettler beschäftigt zu sein, aber eigentlich mich beobachtete,
und ich war das richtige Objekt für ihr Interesse. Warum nicht? Das wäre das
Natürliche – und nicht ihre Treffen mit dem Obdachlosen jeden Tag. Niemand würde
sagen, dass sie neben mir nicht am rechten Platz wäre, und niemand würde sie
auf jene drastische Weise bemerken wie jetzt. Es wäre viel natürlicher, wenn
sie neben mir säße, dem jungen Mann und Liebling der schönen Studentinnen.
Aber die Angelegenheit zwischen uns änderte sich nicht und ich wurde verrückt
bei dieser Ungewissheit, bei diesem Spiel, das, wie ich dachte, sie mit mir
spielte. Die Eitelkeit des Menschen ist so groß, dass sie oft die Eitelkeit
der Welt übertrifft. Weil ich tief in mir spürte, dass diese Frau ganz ernst
war. Viel später verstand ich, dass ich mich nicht geirrt hatte; es gab ein
Spiel, aber es war so groß, dass nur die Götter solche Spiele mit den Sterblichen
spielen könnten.
So gingen die Monate dahin und so lief ein ganzes Jahr ab. Bis ich sie eines
Tages ohne den Bettler auf der Bank sah. Sie wartete den ganzen Tag auf ihn,
aber er kam nicht; er kam auch am nächsten Tag nicht. Dann verschwand auch
sie. Für mich war es eine schwere Zeit, vielleicht die schwerste seit jenem
Augenblick, wo ich sie an der Ecke sah, im Gespräch mit ihrem geheimnisvollen
Freund. Ich dachte mir schon, dass ich sie nicht mehr sehen würde, dass sie
vielleicht für immer gegangen wäre und das Rätsel ihres Erscheinens, ihrer
Abstammung und ihres plötzlichen grundlosen Verschwindens mit ihr
wegbräche.
Als der zehnte Tag ohne sie vorbeiging, begann ich mich nach und nach mit
meiner Lage abzufinden. Es gab so viele Dinge im Leben, die ohne Antwort
blieben, vielleicht war sie eins von ihnen. Später kam einer meiner
Studenten plötzlich zu mir, wie von einem unsichtbaren Boten geschickt,
und erklärte mir, dass der Bettler gestorben sei – erfroren in einer
kalten Nacht auf dem Trottoir; am Morgen fand man ihn vereist, wie aus
einer Gefrierkammer.
Sie war wahrscheinlich mit dem Tod ihres Freundes verschwunden. Ich geriet
in wahre Verzweiflung, wie ein Kind, das begriffen hatte, dass der weit ins
Meer gewehte Ball nicht mehr zurückkehrt. Genau darum verdüsterte sich erst
etwas in mir, als ich sie am nächsten Tag sah – sie saß auf der Bank und
blickte mit klaren, lachenden Augen auf mich, dann erhellte es sich in
solchem Grade, dass mein Gehirn zu brennen begann. Und als ich in meine
Welt zurückkehrte, fand ich mich, auf der Bank neben ihr sitzend – auf
jenem Platz, auf dem ihr Bettler bis vor kurzem gesessen hatte. Und ich
hörte mich seltsame Dinge sprechen, als ob jemand anderer in mir spräche,
und wir beide hörten ihm aufmerksam zu.
„Ich beobachte dich“, sprach ich zu ihr, und sie blickte auf mich mit
schweigsamem Einverständnis, „seit der Zeit, wo du auf dieser Bank
erschienst, aber so, als ob ich dich seit Anbeginn der Zeiten beobachtet
hätte. Und ich fragte mich immer, was du bei diesem Menschen machst, was
dich mit ihm verbindet, was den Vogel mit dem Wurm verbinden könnte?“
„Der Hunger“, antwortete sie mir, und ich versank in diese Stimme, als ob
ich von einer Dünung geschleppt würde, „das eine ist Nahrung für das andere,
so ist die Welt aufgebaut.“
„Vielleicht nur diese Welt?“, fragte ich in der Hoffnung, dass sie meine
Zweifel bestätigen würde, aber sie zerstreute sie noch weniger.
„Nein, alle Welten, wenigstens die, die ich kenne.“
„Bedeutet das, dass du diesen Bettler gegessen hast?“, fragte ich wie ein
dummer Junge, und sie antwortete mir lachend:
„Ja, ich habe das Kostbarste in ihm gegessen. Das, was ein Ziel für jeden
Vogel wie mich war...„
„Die Niere?“, fragte ich mit süßlichem Ekel und sie lachte jetzt von
ganzem Herzen.
„Oder war es die Leber, unsere Verbindung mit dem Kosmischen?“
„Nein!“, antwortete sie herzlich und ohne weiter über meine Dummheit zu
lachen. „Etwas viel kostbareres: seine Seele! Ich habe sie wie einen
Tautropfen unter meiner Zunge getragen. Sie leuchtet jetzt den verspäteten
Wanderern, die die Welt zu Land und auf den Meeren kreuz und quer
durchreisen.“
„Das glaube ich nicht“, widersprach ich ihr mit der Hartnäckigkeit eines
Kindes, „ich glaube nicht, dass eine solche Seele jemandem leuchten könnte.
Aus diesem Bettler strömte nur Finsternis, und wahrscheinlich zerschellen
nun die Schiffe an den Klippen bei einem solchen Leuchtturm.“
„So ist das manchmal mit dem äußeren Schein, er verbirgt nur den Glanz
des Inneren. Ich kann dir versichern, dass es eine sehr klare und viel
Licht ausströmende Seele war. Mir selbst leuchtete sie auf dem ganzen Weg,
solange ich sie immer höher und weiter weg brachte.“
„Gut. Ich werde dir glauben, weil etwas in mir dir glauben will“, willigte
ich am Ende erschöpft ein, „aber wer bist du, dass ich dir so glauben
darf?“
„Ich bin das, was man in deiner Welt Engel nennt. Wir sind die Führer der
Seelen, ihre Beobachter, ihre Feinschmecker. Unsere Zungen spüren pünktlich,
wenn eine Seele reif genug ist, um zurück in das Göttliche aufgenommen zu
werden. Unsere Worte unterweisen sie, unsere Lieder locken sie, damit sie
da bleibt und nicht in die schweren irdischen Schichten hinuntersteigt.“
„Wenn du ein Engel bist, bedeutet das nicht, dass du eine größere als die
menschliche Macht hast? Warum hast du dann den Bettler nicht reich gemacht,
warum hast du zugelassen, dass er an Kälte und Hunger starb?“
Hier lächelte sie traurig und antwortete nach kurzem Schweigen:
„Nicht wir haben diese Welt geschaffen, so, wie sie ist, sondern die
Menschen. So versteht ihr doch den freien Willen: einer ist frei zu
leben, ein anderer zu sterben. Diese Welt braucht Zeichen, nicht nur
gute, sondern auch schlechte Zeichen. Weil die Menschen mehr aus den
negativen Beispielen lernen. Die Welt lacht über ihre geistigen Lehrer
und tötet sie oder schließt sie hinter Steinwände. Dieser Bettler war
ein helles Zeichen, aber viele von euch haben ihren Weg fortgesetzt,
ohne ihn zu bemerken. Nur einer hat ihn wahrgenommen und ist
erschienen.“
„Wer?“, fragte ich eifersüchtig und sie lächelte.
„Du, du bist derjenige, der den Funken gefühlt hat und dann wie ein
Schmetterling in seiner unmittelbaren Nähe zu kreisen begann. Und jetzt
werde ich die Tür öffnen, die du vor dir geöffnet sehen willst. Du wirst
eintreten und mit dir die anderen, die auch bereit sind, einzutreten.“
Ich war im Begriff, ihr zuzurufen, dass ich nirgendwo eintreten wollte,
dass ich mich hier gut fühlte in dieser so unvollkommenen Welt, dass ich
ganz andere Sachen bemerkte und noch andere Absichten mich zu ihr führten.
Aber in diesem Augenblick sah ich, wie sich ihre Konturen wieder auflösten
und jetzt war es spürbarer als zuvor.
„Willkommen im Licht!“, sagte sie zu mir, während sie sich vor meinen Augen
in eine helle Kugel verwandelte und aus meinem Blick verschwand.
Es wäre vielleicht etwas ungenau, wenn ich sagen würde, dass diese
Erscheinung auf mich wie ein Stromschlag wirkte, aber eine solche
Empfindung bemächtigte sich meiner plötzlich. Ich krampfte mich
ganz zusammen, schüttelte mich, krümmte mich wie ein Fragezeichen,
danach dehnte ich mich wie ein unendliches, begeistertes
Ausrufungszeichen. Und nach allem strömten dann jene hellen und
die Widerspiegelungen der Welt im seltsamen Winkel brechenden Tränen
aus meinen Augen. Und solange ein Teil meines Wesens, geschlossen im
irdischen und sterblichen Körper, sich über diesen reinigenden Kollaps
wunderte und ihn vor Beobachtern zu verbergen trachtete, trennte sich
von mir eine in allen Farben des Regenbogens funkelnde Silhouette und
überschritt die Schwelle der hellen Tür – nach IHR, nach derjenigen,
die unsere Seelen in den ursprünglichen Schein alles Existierenden
führt und das Rätsel der Welt damit noch größer macht.
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